Was ist Liebe und Freiheit?

Wie tiefste Verbundenheit zu grösster Unabhängigkeit führen kann.

Immer mehr Menschen kommen zu der Erkenntnis, dass Liebe und Anhängigkeit sich wiedersprechen. Auf der Suche nach neuen Wegen geht es darum, erfüllende Liebesbeziehung und persönliche Freiheit in Einklang zu bringen. Doch oft ist es nicht einfach, die neuen Grenzen zu finden. Wann geht frei lassen in Gleichgültigkeit über? Wie kann man tief verbunden sein und gleichzeitig seine ureigene Melodie leben? Ist Partnerschaft überhaupt möglich, wenn man ganz man selbst sein will?

Der Weg zur Liebe – Wie unser Verstand Lösungen sucht
Der Verstand der meisten Menschen macht sich unablässig Gedanken über die Liebe, weil wir uns, bewusst oder unbewusst, ständig nach Liebe sehnen. Er versucht das Wesen der Liebe zu verstehen, aber dies ist unmöglich, denn Liebe ist ein Zustand jenseits aller Gedanken, quasi die Abwesenheit von Verstand. Also beginnt unser Verstand das zu tun, was jeder gute Wissenschaftler macht: beobachten, analysieren, Puzzleteile zusammenfügen, über fehlende Teile spekulieren und eine Theorie entwickeln. Die Theorie über die Liebe. Ein Ergebnis sieht zum Beispiel so aus:
Ich habe einige Erfahrungen in Partnerschaften gesammelt und bewusst andere Beziehungen beobachtet und stelle fest: Das am häufigsten gelebte, abhängige Lieferanten-Verhalten ist keine Liebe. Es ist gegenseitige Bedürfniserfüllung, ein Fordern und Geben, eine belastende Konstruktion von Regeln des Zusammenseins. Es engt ein, nimmt Freiheit und erzeugt Schmerz. Weil ich aber wirkliche Liebe ersehne, muss ich dieses Verhalten beenden.
Unser Verstand, das Ego, kennt nur eine Möglichkeit, einen empfundenen Zustand zu ändern: durch Handeln. Und um zu Handeln braucht es eine Handlungsidee, einen Plan. Für einen Plan wiederum braucht es Erkenntnis von Ursache und Wirkung. Nun denkt das Ego immer zweidimensional, in Gegenteilen, in Polarität: gut und schlecht, Freude und Leid, Vergangenheit und Zukunft, etwas tun und etwas bekommen,… Wenn eine vollkommen abhängige Beziehung „schlecht“ ist, muss der Gegenpol – eine Beziehung mit vollkommener Unabhängigkeit - „gut“ sein.
Der Verstand findet das logisch. Wenn das alte Spiel von emotionaler Abhängigkeit sich eindeutig nicht als Liebe herausgestellt hat, dann muss die Art von Liebe, nach der wir so sehr suchen wahrscheinlich am anderen Ende der Skala liegen. Und dieses andere Ende - das Gegenteil von Abhängigkeit - trägt den Namen „Freiheit“. Der zwingende Schluss:

„Liebe bedeutet die vollkommene Freiheit, jederzeit zu tun und zu lassen, was immer man will und dem anderen dasselbe zuzugestehen.“

Das klingt sehr richtig und gleichzeitig fühlt es sich doch nicht vollkommen stimmig an. Warum? Weil Liebe sich auch anfühlt wie Nähe, Verbundenheit, Teilhaben, Interesse, Verstehen, miteinander leben, sich widmen, Mitfühlen, Einssein, Verschmelzung. Wie kann das geschehen, wenn jeder sein Leben lebt, als wäre ihm der andere gleichgültig? Als müsste oder dürfte man höchstens Anteil nehmen, sich aber nicht aneinander binden? Eine unverbindliche Beziehung - Fühlt sich das nach einem glücklichen Zustand an? Fühlt sich das nach Freude an? Eines garantiert diese Art von Beziehung: Man bleibt frei um zu tun und zu lassen, was man will. Aber noch etwas ist sicher: Man bleibt auf eine Art alleine, selbst wenn man mit dem anderen zusammen ist.
Um besser zu verstehen, wo man selbst und der andere steht, wohin der Weg führen kann, und was der nächste Schritt sein könnte, ist es hilfreich, sich die Stufen von Erfahrungen in Beziehungen bewusst zu machen.

Die sieben Erfahrungs-Stufen von Liebe und Freiheit.

1) Gegenseitige Abhängigkeit mit Leid
Die Art von Beziehung, wie sie der grösste Teil der Menschen leben: Ein Miteinander, das vor allem von gegenseitiger Bedürfniserfüllung geprägt ist. Ein Gefühl von Liebe ist oft der Beginn, aber bald geht es viel mehr darum, sich gegenseitig Gutes zu tun und den Ansprüchen des anderen zu genügen, um sich das Recht zu erwerben, selbst Ansprüche zu stellen. Viele Menschen spüren, dass in dieser Phase der Beziehung etwas fehlt, das vielleicht zu Beginn beide zusammen geführt hat. Unzufriedenheit tritt auf und man versucht diese mit Verhaltensänderungen an sich und am Partner zu beseitigen.
Überzeugung: „Unsere Liebe geht verloren, wenn ich tue, was mir gut tut. Ich muss tun, was dem Partner gut tut, dann bleibt sie vielleicht erhalten“.

2) Abgrenzung um freier zu werden
Die - wegen einem Idealbild von Partnerschaft oft auch selbst gestellten - Forderungen beginnen sich wie Verpflichtungen auszuwirken und fühlen sich wie eine immer schwerer werdende Last an. Der Gedanke an Befreiung kommt auf und man sucht Erklärungen und Informationen dafür. Der Wunsch nach Freiheit wird konkret und immer stärker. Freunde und Bekannte werden befragt, und - unbewusst - bereits darauf eingestimmt, beim nächsten Schritt zur Seite zu stehen.
Überzeugung: „Ich muss mir Freiraum schaffen, sonst ersticke ich“.

3) Abtrennung um frei zu werden
Alle neuen Vereinbarungen nützen nichts, weil der Drang sich von dem Druck zu befreien und die eigene Individualität zu leben immer stärker wird. Gleichzeitig erzeugt dieses Streben nach Unabhängigkeit beim Partner wachsende Unsicherheit und Verlustangst und produziert damit noch höhere Spannung.
Wenn genügend Kraft vorhanden ist, trennt sich einer der Partner aus der Beziehung. Weil auf einer Ebene immer Liebe vorhanden ist und meist auch bleiben wird, unterstützen Streit und Schuldzuweisungen dabei, die Verbindung äusserlich und energetisch zu trennen und beispielsweise über Wut in die eigene Kraft zu kommen. Während man sich in der Phase der Verliebtheit miteinander über die gleichartige Sicht der Welt freute, wirft man sich nun - um die Trennung zu erleichtern - die allzu verschiedenen Sichtweisen vor.
Überzeugung: „Um wirklich frei zu sein muss ich mich trennen“.

4) Zentrierung: Ganz Selbst werden um frei zu bleiben
Die Befreiung aus dem abhängigen Verhältnis fühlt sich grandios an. Die Zeit des Geniessens und des Wiederaufbaus von Selbstwert beginnt. Sehnsüchte und lange unterdrückte Leidenschaften können endlich gelebt werden. Nach einer Weile kommt der Wunsch auf, dieses schöne Gefühl von Freiheit mit jemandem zu teilen, doch gleichzeitig schwappt die alte Erfahrung nach oben, wo es hinführt, sein Leben mit dem eines anderen allzu intensiv zu verbinden. Eine innere Alarmglocke läutet und mahnt zur Vorsicht.
Es entsteht ein Problem: Liebe hat es schwer, sich zu entfalten, wenn man beobachtet, welches Verhalten der andere an den Tag legt. Zwei sich beobachtende Menschen begegnen sich über den Verstand, nicht über das Herz. Konzepte werden verglichen, Abweichungen festgestellt und bewertet. Einerseits ein wichtiger und natürlicher Vorgang, andererseits eine grosse Bremse für wirkliche Nähe.
Überzeugung: „Ich muss gut aufpassen, was gerade geschieht, sonst rutsche ich wieder in das alte Muster“.

5) Neue Partnersuche mit der Angst Freiheit zu verlieren
Weil Klarheit im Umgang miteinander wichtig erscheint, versichert man sich gegenseitig, dass nur noch Beziehungen mit grosser Freiheit und Unabhängigkeit in Frage kommen. Einerseits denkt sich das logisch und selbstbewusst, aber seltsamerweise fühlt es sich im gleichen Augenblick nicht wirklich gut an. Warum? Weil wir genau das nicht ersehnen. Wir sehnen uns im tiefsten Inneren nicht nach vollkommener Unabhängigkeit, sondern nach tiefster Verbundenheit zu einem Liebespartner. Behauptungen, dass dies nicht so wäre, sind Geschichten des Verstandes, erdacht als Lösungen aufgrund erlebter Verletzungen und Schmerzen.
Wir wollen wir selbst sein, unser Wesen leben, uns frei ausrücken und entfalten und gleichzeitig tief verbunden mit einem Liebespartner sein. Weil wir glauben, dies sei nicht vereinbar, treffen wir eine Entscheidung für die Freiheit.
Überzeugung: „Ich darf mich nicht zu sehr einlassen. Zu viel Nähe ist nicht gut für meine Freiheit“.

6) Verbindung mit Selbstschutz
Die Sehnsucht danach, sich zu Öffnen und die gleichzeitige Überzeugung, sich abgrenzen zu müssen, um seine schwer erkämpfte Freiheit zu bewahren, erzeugt Schmerz. Die neuen Konstruktionen des Verstandes zum Thema Liebe und Partnerschaft können jetzt recht abenteuerlich sein. Sie reichen von der Idee, Freiheit bedeute verschiedene Liebesbeziehungen gleichzeitig oder in schneller Folge zu leben und akzeptieren zu müssen, bis hin zur Überzeugung Liebe würde bedeuten, auszutauschen, was man braucht und sich dann sofort wieder los zu lassen, um sich nur nicht zu sehr einzuengen. Sich gegenseitig eine gewisse Gleichgültigkeit an der Lebensgestaltung des anderen zu signalisieren ist ebenfalls ein - unbewusstes - Spiel, das beiden Egos helfen soll, nicht in ihre Ängste von Freiheitsverlust zurück zu fallen. Hier balancieren viele Menschen auf dem Grat zwischen der Sehnsucht nach großer Tiefe in einer Verbindung und dem Wunsch gleichzeitig frei wie ein Vogel am Himmel des Lebens zu fliegen. Das Potenzial für Verletzung, innere Leere oder Beziehungsdrama ist hier gross, weil das Selbstschutzverhalten eine Demonstration des Verstandes ist, der sich selbst und dem Anderen Unabhängigkeit, Stärke, Souveränität und Freiheit beweisen will. Tiefe Sehnsüchte werden dabei mit Verstandesargumenten und gescheiterten Episoden aus der Vergangenheit unterdrückt.
Überzeugung: „Egal, was ich fühle… Ich muss deutlich zeigen, dass ich verstanden habe, was Freiheit ist, muss sie aktiv gewähren und sie mir bewahren“.

7) Die Freiheit, sich unendlich verbunden fühlen zu dürfen
Irgendwann erkennt man vielleicht, dass man keine Tiefe erfahren kann, ohne sich zu verbinden, dass Selbstschutz nicht wirklich gut funktioniert, weil es immer eine Abgrenzung von tiefen Gefühlen ist. Wie wäre der Gedanke: „Ich muss mich nicht frei verhalten um zu frei zu sein.“? Wie würde es sich anfühlen, wenn uns jemand erlauben würde, uns vollkommen mit einem anderen Menschen zu verbinden und uns gleichzeitig garantieren könnte, dass wir frei und ganz wir selbst bleiben?
Es gibt jemanden, der uns dies erlauben kann: Wir selbst. Die Erfahrung, dass beides zusammen nicht funktioniert, ist nichts weiter als eine Überzeugung, es ist keine Realität. Der Gedanke alleine erzeugt den Schmerz. In dem Augenblick, in dem wir erkennen, dass unsere bisherige Überzeugung, „zu grosse Verbundenheit führt zu Abhängigkeit, Unfreiheit und Schmerz“, nur eine unwahre Geschichte des Verstandes ist, sind wir wirklich frei, um uns auf Liebe ohne Angst einzulassen.
Überzeugung: „Ich darf mich verbinden, solange und so tief ich will und lebe dabei sogar viel mehr Freiheit, als wenn ich mich schützen würde“.

Gemeinsamkeit geschieht. Freiheit geschieht.
Wenn die vom Verstand erdachte Beziehung mit vollkommener Freiheit sich nicht wirklich richtig anfühlt - wie sieht dann die Beziehung aus, nach der wir uns so sehr sehnen?
Es ist ein Zusammensein ohne Abhängigkeit, aber in tiefer Verbundenheit. Wenn zwei Menschen miteinander wirklich im Herzen verbunden sind, stellen sich Fragen wie:
persönlicher Freiraum, Eifersucht, etc. nicht mehr. Jeder lebt, was ihn erfüllt und wie es ihn erfüllt und gleichzeitig geschieht Gemeinsamkeit, wie von selbst. Diese Gemeinsamkeit braucht keinen Plan, keine Regeln und keine Absprachen.
Dies wird nicht mit jedem Partner funktionieren. Mindestens einer muss bewusst sein, was geschieht und beide müssen sich entscheiden, das Neue zu versuchen. Eine solche Partnerschaft kann die grösste Herausforderung, das grösste Wachstum und die grösste Erfüllung gleichzeitig sein. In dem Augenblick, wenn beide Partner nicht mehr miteinander um Freiheit, Selbstbehauptung und die Vermeidung des Rollenspiels ringen, spüren sie, dass wirkliche Freiheit dann vorhanden ist, wenn man sich über sie keine Gedanken mehr macht. Sie ist einfach nur da, so wie auch Liebe einfach nur da ist, wenn wir nichts mehr tun, um sie zu bekommen. So gesehen haben Liebe und Freiheit viel miteinander zu tun.

Die drei Arten von Liebesbeziehungen:
1: Abhängige Beziehung (belastend)
2: Freie Beziehung (unverbindlich)
3: Sich selbst ereignende gegenseitige Verbundenheit